Das Photogramm|Licht, Spur und Schatten 08./09. April 2006
Abendtalk mit Prof. Floris M. Neusüss (Kassel)
(
mit Noam M. Elcott, Peter Geimer
& Tim Otto Roth)
"Die Unpopularität des Photogramms im künstlerischen Zusammenhang hängt natürlich damit zusammen, daß die Technik nicht breit verwendbar ist für künstlerische Äußerungen, sie muß passen."
Roth: Die Entdeckung des Photogramms wird in den Entstehungsmythen der Künstler gerne mit einem Zufall verknüpft. Gab es einen solchen Zufall auch bei Floris M. Neusüss?
Neusüss: Es gibt meist irgendeine Initialzündung. Die Idee zu den Nachtbildern stammte ursprünglich von meiner Frau Renate Heyne, die 1984 bei einem Gewitter zu mir sagte, ich solle doch rausgehen und das Papier vom Blitz belichten lassen. Ich habe dann unter Büschen ein paar Blätter verteilt und sie nach drei, fünf Blitzen wieder reingenommen, getrocknet, entwickelt - und siehe da, es war etwas auf den Bildern drauf. Das hat dann über die Jahre die Werkgruppe der Nachtbilder ausgelöst. Die Nachtbilder sind Photogramme, die man eigentlich gar nicht kontrollieren kann, da man erst hinterher das Ergebnis sieht. Hinzu kommt, daß der Zyklus keine Landschaften im üblichen Sinne zeigt. Die Nachtbilder sind zwar räumlich wirkende Bilder, sie lassen sich aber mit unserem gewöhnlichen Verständnis von Raum kaum oder nur schwer in Einklang bringen.
Im Unterschied zu meinen großformatigen Nudogrammen liegt die Besonderheit der Nachtbilder darin, daß ich die Dinge nicht mehr in das Studio bringe, um sie dort in einem dunklen Raum zu belichten. Um Photogramme überhaupt machen zu können, benötigen Sie zunächst Dunkelheit. Während Sie in der normalen Linsenkameraphotographie ohne weiteres rausgehen können, da der lichtempfindliche Vorgang in dem kleinen Kasten passiert, sind Sie beim Photogramm gewissermaßen in der Kamera bzw. in dem Raum, wo die Belichtung stattfindet, anwesend. Bei den Nachtbildern nutze ich nun die Nacht als dunkle Kammer, deshalb heißt die Werkgruppe auch Nachtbilder. Das habe ich in den letzten zwei Jahrzehnten weiterentwickelt. Heute mache ich die Photogramme vor Ort und gehe mit dem lichtempfindlichen Material zu den Dingen.
Die Photogrammforschung ist bei uns ebenfalls durch einen Zufall ausgelöst worden. 1983 sollte eine Ausstellung von mir im Münchner Stadtmuseum auf Wunsch des damaligen Kurators durch eine Einführungsschau zur Geschichte des Photogramms eingeleitet werden. Auslöser für die Idee war, daß das Massenpublikum, das aufgrund bestimmter Photographieerwartungen in dieses Museum geht, nicht weiß, was ein Photogramm ist. So haben wir uns überlegt, wie man in einer Vorschau zeigen kann, an welcher Stelle ich mit meinen Arbeiten im Hinblick auf die Entwicklung des Photogramms stehe. Das war alles nicht auf Anhieb zu leisten und hat damit bei uns die jahrelange Forschungsgeschichte zum Photogramm ausgelöst.
Roth: Was für ein Zufall war denn dafür verantwortlich, daß Floris M. Neusüss auf einmal nackte Frauen auf das Photopapier legte und damit die Nudogramme schuf?
Neusüss: Das ist wahrscheinlich jugendbedingt. Bei Hajek-Halke an der Akademie in Berlin ging es Anfang der 60-er Jahre eigentlich recht unprofessionell und unphotographisch zu. Dort wurde viel mit technischem Papier gearbeitet und mir gefielen die Photos auf diesem Material an für sich nicht. Mit einer solchen Rolle habe ich dann aber in meiner großen Berliner Wohnung angefangen, meine ersten Nudogramme zu machen.
Elcott: Kannten Sie damals die Körperphotogramme von Robert Rauschenberg, die er 1949 am Black Mountain College gemacht hatte?
Neusüss: Nein, und auch nicht die Abdrücke von Yves Klein, die ungefähr zeitgleich zu den Nudogrammen entstanden. Auf die Blueprint-Photogramme von Rauschenberg bin ich erst bei meinen Recherchen zu meinen Buch „Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ gestoßen.
Roth: Welche Rolle spielt denn der Aspekt der Berührung in den Nudogrammen?
Neusüss: Die Berührung ist ein wichtiges Bildelement der Nudogramme. Sie sehen ja auch, daß sich die Berührungspunkte in diesen Bildern durch Nichtannahme von Chemie verstärkten.
Roth: Neu war an den Nudogrammen für die Entwicklung des Photogramms auch, daß Sie begonnen haben mit positiven Prozessen zu arbeiten.
Neusüss: Da ich von der Malerei komme, habe ich meine Photogramme immer umgekehrt und schwarze Silhouetten auf hellem Grund gemacht. Für mich ist das formgebende Element in meinen Bildern primär das Schwarz gewesen.
Roth: Machen wir einen Sprung in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhundert: Die Babyphotogramme von Adam Fuss könnte man doch als einige der wenigen Ansätze beschreiben, die nach Ihnen im Bereich des Ganzkörperphotogramms neue Akzente zu setzen vermochten.
Neusüss: Das Innovative bei Adam Fuss ist die Bewegung. Er legt die Babys ja in Wasser und besetzt so den Hintergrund mit Wellen.
Noam Elcott: "Bemerkenswert an der derzeitigen Renaissance des Photogramms ist, daß die künstlerischen Ansätze sich nicht mehr als eine Fortsetzung der Photogrammtradition der Avantgarde verstehen, sondern daß sie über die Avantgarde hinweg zurück ins 19. Jahrhundert springen."
Elcott: Es scheint mir, daß man viele, wenn auch nicht alle, Arbeiten von Adam Fuss, aber auch Ihre Nachtbilder in die Tradition der Naturgeschichte des 19. Jahrhunderts, sprich dem Naturselbstdruck oder den Sunprints, stellen könnte. Bemerkenswert an der derzeitigen Renaissance des Photogramms ist, daß die künstlerischen Ansätze sich nicht mehr als eine Fortsetzung der Photogrammtradition der Avantgarde verstehen, sondern daß sie über die Avantgarde hinweg zurück ins 19. Jahrhundert springen.
Neusüss: Das können Sie nur über die Technik behaupten. Die Technik hat sich seit dem 19. Jahrhundert vielleicht nicht wesentlich weiterentwickelt.
Ich glaube, daß man in der Zeit, der man lebt, seine Kunst macht. Ich bin groß geworden und geprägt durch das Informelle. Mich haben die Kompositionslehren der Modernen eher veranlaßt, diese zu überwinden. Ich fühle mich deshalb in meinem Arbeiten einem späten Hausmann näher, als einem Moholy-Nagy oder Man Ray, obgleich meine Wurzeln bei diesen beiden Künstlern liegen. „Malerei Photographie Film“ habe ich als Zwanzigjähriger gelesen. Die Unpopularität des Photogramms im künstlerischen Zusammenhang hängt natürlich damit zusammen, daß die Technik nicht breit verwendbar ist für künstlerische Äußerungen, sie muß einfach passen. Bei Christian Schad, Man Ray und Moholy-Nagy hat sie gepaßt.
Geimer: Eine Antwort auf Noams Frage könnte darin bestehen, daß die Konjunktur des 19. Jahrhunderts auch mit der Verbreitung der digitalen Photographie zu tun hat. Es hat mich immer merkwürdig berührt, daß Roland Barthes’ Buch „Die helle Kammer“, das ja ein emphatisches Lob der Spur ist, in etwa mit den Anfängen der digitalen Photographie korreliert. Wie überhaupt der Begriff analoge Photographie ja nur Sinn macht, wenn bereits vom Digitalen die Rede ist. Ich glaube, daß die ganze Idee des Abdrucks und der Spur mit dem Auftauchen der digitalen Bilder nicht einfach verschwunden ist, sondern vielmehr in eine Grauzone geführt hat, in der die alte Konzeption noch fortlebt.
Neusüss: Das hat technisch nichts damit zu tun. Was ist denn anders an der digitalen Photographie? Das, was früher Silberhalogenide beim aufzeichnenden Medium gemacht haben, geschieht jetzt elektronisch. Es kommt doch auf die Radikalität des künstlerischen Inhalts an.
Geimer: Es ist doch gegenwärtig häufig vom Ende der Photographie die Rede, diesen Begriff haben Sie heute auch verwendet. Wenn man das Ende einer Sache proklamiert, muß man auch angeben können, was genau da überhaupt verabschiedet werden soll.
Neusüss: Sie meinen damit doch die Authentizität der Linsenphotographie. Das Photogramm hat meiner Meinung nach aber mit der Linsenphotographie überhaupt nichts zu tun vergleichen Sie beispielsweise deren Gebundenheit and die Zentralperspektive.
Roth: Ich möchte nochmals auf ihr Buch zum Photogramm im 20. Jahrhundert zurückkommen. Bemerkenswert ist, daß es mit zwei Nichtkunstbildern beginnt, nämlich zwei Röntgenbildern von Josef-Maria Eder bzw. Charles Vaillant.
Neusüss: Der Titel heißt wohlgemerkt „Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts“, es schränkt also die Verwendung des Photogramms ein. Das Röntgenbild ist ein Photogramm, nur verwendet man das Röntgenbild in wissenschaftlichen und medizinischen Zusammenhängen und möchte es deshalb entschlüsseln. Bei Strindberg haben wir heute nun gesehen, daß die Irritation bei Bildern, die aus einem künstlerischen Kontext kommen, im Wesentlichen in deren Nichtentschlüsselbarkeit liegt.
Geimer: Visuell werden in ihrem Photogrammbuch das Röntgenbild von Josef-Maria Eder aus dem Atlas von 1896 in die Reihe des Photogramms eingereiht, im Text kommt dieses aber nicht mehr vor. Wie würden Sie beurteilen, daß das Bild aus einem ganz anderen Kontext kommt, also gar nicht als Kunst gedacht war?
Neusüss: Für mein Empfinden ist das Bild ein Experiment. Es ist eine Materialstudie, die unterschiedliche Materialien hinsichtlich ihrer Durchlässigkeit untersucht, und steht hier für die photogrammatische Umsetzung von Materialität in Grauwerte.
Mit den beiden anderen Röntgenbildern als Frontispize werden das Kapitel „Hantieren und Montieren“, in dem die Dada-Zeit betrachtet wird, und das Kapitel „Konstrukt und Destrukt“ über den Konstruktivismus eingeleitet. Das Buch ist ja eigentlich eine Art Künstlerbuch, ähnlich wie das „Buch Neuer Künster“ von Moholy-Nagy und Kassak. Ich betrachte die Frontispize deshalb mehr als Einstimmungen auf die Kapitel in einer etwas irritierenden Art, die die Bereitschaft des Lesers herausfordert, ihre ursprüngliche Bestimmung auf den ersten Blick zu erkennen, aber dann gewissermaßen gedanklich zu überspringen.